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VIELFRASSE IN DER HEIDE: Wildpark lässt finnische Räuber einfliegen

Vielfrasse im Wildpark Lüneburger Heide
Vielfraß im Wildpark Lüneburger Heide
Wildpark Lüneburger Heide, Montagmorgen, 7.00 Uhr. Eigentlich eine ganz normale Zeit. Zumindest für die Tierpfleger, die jeden Tag um 6.30 Uhr auf der Matte stehen, um Tiger, Bären, Wölfe und die vielen anderen Tiere im Park in den Tag zu schicken. Routinearbeit. Aber wenn eine neue Tierart einzieht, sind auch die hartgesottensten Tierpfleger wie Jens Pradel schon mal ein wenig aufgeregt und um das Wohl ihrer Schützlinge besorgt. Vor allem, wenn die „Neuen“ per Flugzeug kommen.
Neue Tiere sind immer auch Chefsache. Alexander Tietz lenkt heute den Wildpark-Transporter durch dichten Nebel und den allmorgendlichen Stau auf der A7 zum Flughafen Hamburg. Die Stimmung ist gut, auch wenn Kaffee fehlt. Den gibt es in der großen Abflughalle, die zu dieser morgendlichen Stunde noch angenehm leer ist. Zwischenzeitlich die Nachricht: Der Flieger hat 45 Minuten Verspätung. Zeit genug also, um die letzten Formalitäten zu erledigen. Im Cargo-Bereich erwartet das Wildpark-Team eine andere Welt. Nichts ist mehr da vom hochglanz-polierten Glamour des Passagier-Terminals, das sofort Lust auf Urlaub und Verreisen macht, sobald man die luftige Halle betritt. Im Cargo-Bereich herrscht betriebsame Nüchternheit. Gabelstapler hieven Paletten auf die wartenden Lkw, in tristen Büros bearbeitet das Personal Frachtpapiere - auch hier: Routine. Zwischen all der Tristesse fällt der weiße Wildpark-Transporter - beklebt mit dem Konterfei der sibirischen Tiger und viel grüner Landschaft - besonders auf. Inzwischen ist der Flieger mit der wertvollen Fracht gelandet. Nach mehrmaligen vergeblichen Anläufen ist auch das richtige Büro für den nötigen Papierkram gefunden.
Die Ankunft lebender Tiere scheint am Flughafen auch kein alltäglicher Vorgang zu sein und hat sich schnell rumgesprochen; vor der Frachthalle haben sich inzwischen zahlreiche Flughafen-Mitarbeiter versammelt, um einen Blick auf die ungewöhnliche Fracht zu werfen. Für ein Paar Minuten liegt das Cargo-Terminal nahezu lahm. Man ist neugierig. Dann öffnet sich das große Rolltor. Ein von dem Menschen-Auflauf etwas überrascht scheinender Mitarbeiter hat einen niedrigen Anhänger mit den heiß ersehnten Transportkisten im Schlepptau. „Da hat was drin geknurrt“, ruft er seinen Kollegen zu. Sofort versucht einer der Umstehenden einen Blick auf den Inhalt der engmaschig vergitterten Kisten zu erhaschen. Ein anderer liest, was auf einem der zahlreichen Aufkleber auf den Kisten zu lesen ist: „Wolverine“ steht drauf. „Da sind Wölfe drin“, flüstert er zu einem Kollegen. Weit gefehlt. „Das sind Vielfraße“, klärt Alexander Tietz freundlich auf. 
Schnell sind die Kisten im Transporter verstaut, man verabschiedet sich und dann treten die neuen Wildpark-Bewohner die letzte Etappe ihrer Reise an. „Jetzt haben wir unsere Vielfraße“ - Alexander Tietz freut sich sichtlich darüber. Lange schon wollte der Wildpark Junior-Chef die bedrohte Tierart in den Park holen. „Diese Tiere passen einfach perfekt in unser Konzept, vor allem nordische Tierarten zu zeigen“, sagt Tietz. Vor mehr als einem halben Jahr hat er das Projekt in Angriff genommen. Unzählige E-Mails, Telefonate und umfangreicher Schriftverkehr waren nötig, bis endlich die gute Nachricht kam, dass zwei geeignete Tiere gefunden waren. „Kampi“ und „Kätkä“ heißen sie. Die Namen lassen schon auf die Herkunft schließen; die beiden männlichen Tiere stammen aus dem Zoo Ähtäri, einer Stadt im Westen Finnlands. „Kampi“ und „Kätkä“ sind aus dem selben Wurf, also Brüder. Gern wollte der Wildpark auch ein Weibchen für die Zucht haben. Aber zur Zeit gibt es keine geeigneten weiblichen Tiere. Die Entscheidung darüber, welches Tier in welchen Park darf, trifft der zuständige Koordinator des „Europäischen Erhaltungszuchtprogrammes“, kurz „EEP“, einem zoo-übergreifenden Projekt zur gezielten Zucht von in Zoos gehaltenen Tieren. 
Aber „Kampi“ und Kätkä“ brauchen nicht ungeduldig zu werden. Sie sind erst eineinhalb Jahre alt, haben also noch genügend Zeit, um zum Erhalt ihrer Tierart beizutragen. Vielfraße können in Gefangenschaft bis zu 20 Jahre alt werden. In freier Wildbahn ist der Vielfraß vor allem in Nordeuropa und in Nordamerika zu Hause und zählt heute zu den bedrohten Tierarten. Lange Zeit sind die Tiere bejagt worden - vor allem als Beutefeinde und wegen ihres Fells. Die Raubtiere, die zu den Marderartigen gehören und die größte Marderart der Welt sind, ernähren sich im Sommer viel von Aas und jagen im Winter kleinere Tiere wie Hasen oder am Boden lebende Vögel. Die männlichen Tiere werden bis zu 30 Kilo schwer und erreichen eine Körperlänge von rund einem Meter. Sie können gut klettern und ihnen eilt der Ruf voraus, „Ausbruchskünstler“ zu sein. Nicht zuletzt deswegen ist ihr komplettes Gehege im Wildpark mit einem Untergrabschutz versehen und ausbruchssicher gemacht worden. Dass dies notwendig ist, hat man beim ersten Ausflug von „Kampi“ und „Kätkä“ in der großzügigen Anlage schon erahnen können. 
Die beiden haben ihr neues Zuhause ganz genau in Augenschein genommen – jede Ecke, jeden
Baumstamm und auch den Wassergraben nach einem Fluchtweg durchsucht. Apropos Gehege: Die einzigen, die vielleicht ein bisschen sauer auf die „Neuen“ sein dürften, sind die Nasenbären. Die hatten das zweifelhafte Vergnügen, ihr Gehege für die finnischen Räuber räumen und zu ihren Nachbarn, den Stachelschweinen ziehen zu müssen. Die Nasenbären scheinen den Umzug aber gut verkraftet zu haben. Was tut man nicht alles für gute Nachbarschaft! 
Und schließlich bleibt da noch die Frage, ob der Vielfraß wirklich so viel frisst? Die Antwort: Eigentlich nicht. Der Name ist wohl eine Ableitung vom altnordischen „Fjellfräs“, was so viel wie „Bergkatze“ bedeutet. Eine andere Deutung besagt, dass das Tier seinen Namen der Eigenschaft verdankt, alles Fressbare in die Nähe seines Verstecks zu schleppen und Vorräte anzulegen.